Schriftsteller
Simon Vestdijk

1898 - 1971

Romane, Gedichte und Erzählungen

 

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Ödipus und Antigone


von Simon Vestdijk, übersetzt von Ilja Braun

 

Sie konnt sich nimmer fügen in die wahre,
Die tiefre Blindheit, die sie in ihm sah,
Und nicht auf dass sie Kummer ihm erspare,
Blieb sie dabei, dass er unschuldig war!


Wie kann das Schicksal einen Menschen strafen,
Der ohne Absicht sich in Schuld verstrickt?
Wer würde jemals eine Frau beschlafen,
Wenn seine Mutter er in ihr erblickt?


Doch er, der Blinde, wollt davon nichts wissen,
Ergab sich dem erhabnen Schicksal treu
In eitler Selbstsucht und in nobler Scheu.


Worauf sie schwieg, und schritt mit ihm einher,
Während ihm Ängste das Gemüt zerrissen,
Dass doch das Leid am Ende sinnlos wär.


(1949; Übersetzung veröffentlicht in: "Mythos Antigone". Hrsg. von Lutz
Walther. Leipzig: Reclam 2004.)

http://www.mynetcologne.de/~nc-braunil3/vestdijk.htm


Neue Deutsche Übersetztung: Der kupferne Garten, bei Arche Verlag

Übersetztung von Marianne Holberg, 22 € 364 seiten, isbn 3-7160-2326-4 - Oktober 2005. Bestellen bei Amazon.de oder Bol.de oder Buch.24 oder ABEbooks.de oder Buchhandel.de
"Die tragische Liebe zwischen dem Sohn eines Richters und der Tochter eines erfolglosen Dirigenten in einer Kleinstadt um 1900. Ein großer Klassiker der niederländischen Literatur ist zu entdecken: Simon Vestdijk"

 

Der gestohlene Traum
Es wurde in dem Traum Musik gemacht: bestimmte überirdische Klänge, die sich anhörten wie ein Summen oder wie ein Hallen oder der Gesang von jenen Arbeitern; ein Geräusch, das durch seinen ganzen Körper klang, als ob große Künstler zu seiner eigenen unaussprechlichen Freude von innen auf seinen hohlen Knochen bliesen. Welch eine Erleichterung, bewerkstelligt durch diese Musik! aus Der gestohlene Traum

Deutsche Neuausgabe Sankt Sebastian, Die Geschichte einer Begabung

Artikel aus Winkler Prins Lexicon

Übersetzt ins Deutsche

Aus der Roman Das fünfte Siegel - ein El-Greco-Roman aus der spanischen Inquisition
Übertr. aus dem Holländischen von Annie Gerdeck-de Waal

 

 

SIMON VESTDIJK 1898 - 1971

Artikel von Rein Bloem im Winkler Prins Lexikon, 7.Auflage 1975

Berechtigte Übersetzung aus dem Niederländischen von Ydwine Schneider 1992



Simon Vestdijk, geboren am 17.10.1898 in Harlingen (Provinz Friesland) als einziges Kind gutbürgerlicher, Amsterdamer Eltern. Sein Vater war Turnlehrer, ein tatkräftiger Mann, seine Mutter eher introvert und immer besorgt um die Gesundheit ihres Sohnes. Beide waren musikalisch. Auch bei Simon war die Liebe zur Musik schon früh anwesend.

Nach Grundschule und Oberrealschule studierte er in Amsterdam Medizin (Abschluß 1927) und Musik (1926), praktizierte unter anderem einige Zeit als Schiffsarzt, verzichtete aber auf sowohl eine ärztliche als auch eine musikalische Laufbahn und widmete sich ab 1932 ganz der Literatur.

1939 nahm er seinen Wohnsitz in Doorn (Provinz Utrecht), wo er bis zu seinem Tode am 23.3.1971 zurückgezogen lebte, anfangs mit seiner langjährigen Haushälterin und Freundin, nach deren Tod und seiner Heirat (1965) mit seiner Frau, einem Sohn und einer Tochter.

Als Student publizierte er Gedichte und Erzählungen in den unterschiedlichen USA (Unitas Stud.Verein Amsterdam) Jahrbüchern und in literarischen Zeitschriften. Er debütierte mit Gedichten in De Vrije Bladen (Die Freien Blätter), kam in Berührung mit den niederländischen Autoren Du Perron und Ter Braak und wurde später Redaktionsmitglied der Zeitschrift Forum.

Vestdijks erster Roman Kind tussen vier vrouwen (Kind zwischen vier Frauen), vom Verlag Nijgh & Van Ditmar abgelehnt, weil das Manuskript (fast 1000 Seiten) zu umfangreich war für ein Debüt, wurde zeit seines Lebens keinem anderen Verlag angeboten, sondern erst postum veröffentlicht (1972). Dieser Roman war die Keimzelle, aus der viele Romane, Novellen und Gedichte entstehen sollten. Hauptperson ist ein isoliertes Kind voller Ängste, das sich einerseits zu verlieren sucht in Frauengestalten, welche die Mutter, die Schwester, die irdische Freundin und die unerreichbare Geliebte (=Ina Damman) repräsentieren (oder Aspekte eíner Faszination sind), andrerseits sich davon befreien möchte, um letzten Endes eigene Wege zu gehen. Diese romantische Thematik ist grundlegend für den größten Teil der Werke Vestdijks und entwickelt sich, besonders nach der Verantwortung und Bewusstwerdung in seinem Essay De toekomst der religie (Die Zukunft der Religion) (1947) zu einer persönlichen Mystik: ein Mensch, der sich in einem Status quo befindet, wird sich plötzlich seinerselbst bewusst (oft vor dem katalysierenden Hintergrund der Natur, vorzugsweise einer Gebirgslandschaft), überwindet diese Bindungen und orientiert sich auf ein Ideal in der Zukunft; anfangs gestaltet sich das in Form eines höheren Ichs, einer Leitfigur, dann in Gestalt einer unnennbaren, höchstens noch weiblich betonten Ewigkeitserfahrung, die erst im Tode ihre Vollendung finden wird. Zahlreicher als die Momente, in denen Gegenwart und Vergangenheit zusammenfallen und solch eine zeitlich begrenzte Erfahrung erreicht wird (namentlich im Traum, in der Extase und in der Phantasie), sind die Konfliktsituationen zwischen den beiden Ausgangspunkten. Es verleiht den Hauptpersonen in Vestdijks Romanen, von denen der Titelheld im achtbändigen Anton-Wachter-Zyklus in hohem Maße autobiografisch ausgearbeitet wurde, fast immer eine gewisse Tragik und eine unheilbare Einsamkeit; ihre weiblichen und männlichen Vorbilder, Gegen- oder Mitspieler bleiben stets unerreichbar. Vestdijk hat diese Mythologie eines ambivalenten Lebenswandels, bestimmt von regressiven und progressiven Sehnsüchten, in zahlreichen zeitgenössischen, historischen und futuristischen Romanen und Novellen dargestellt, psychologische Schemen benutzend, die er astrologischen Grundsätzen entnahm; nicht aus dem Glauben an Astrologie heraus, sondern weil diese ihm ein Rollenspiel lieferte, welches das Grundmuster seiner Intrigen ausschmücken konnte.

Weniger psychologisch bedingt funktioniert die gleiche Mythologie offensichtlich in Vestdijks Poesie, zwanzig Bände, postum in drei Sammelbänden herausgegeben als Verzamelde Gedichten (Gesammelte Gedichte). 1986 erschien dann noch ein umfangreicher Band Nagelaten Gedichten (Hinterlassene Gedichte). In sehr plastischen Versen, in denen die Idee oft schwerer wiegt als Laut und Rhythmus, wird der fundamentalen Unmöglichkeit, sich mit ‘Höherem’ zu identifizieren oder das ‘Damals’ bleibend im ‘Jetzt’ zu integrieren, viele Male Ausdruck verliehen. Das eindrucksvollste Beispiel bildet die Folge von 150 Sonetten, Madonna met de valken aus dem Band Gestelse Liederen (1949), geschrieben als er sich während des Zweiten Weltkriegs einige Zeit in St.-Michielsgestel in Geiselhaft befand. Viel Forschungsmaterial für die mythologische Beschaffenheit seiner Werke liefern auch die Essaybände, von denen, außer De toekomst der religie, Essays in duodecimo (1952) und die niemals effektiv gewordene Dissertation Het wezen van de angst (das Wesen der Angst) – erschienen 1968, anlässlich von Vestdijks 70. Geburtstag – die wichtigsten Beispiele sind.

Sowohl Romane als auch Poesie und Essays wurden in einem spröde-barocken Stil mit vielen Unterbrechungen, Nebenbeibemerkungen und Korrekturen geschrieben, was eher auf eine grundlegende Unsicherheit und Gefühlstarnung hindeutet als auf intellektuelles Gehabe, dessen Vestdijk mit seiner ungeheuren Produktivität des öfteren bezichtigt worden ist. Sein umfangreiches und vielseitiges Gesamtwerk, in dem seine originellen Veröffentlichungen auf dem Gebiete der Musik ein Kapitel für sich darstellen, und das nahezu unveränderlich ein sehr hohes Niveau beibehält, wurde unzählige Male preisgekrönt – darunter 1971 der 'Prijs der Nederlandse letteren' (Preis der Philologie) postum von seiner Witwe in Empfang genommen –, erhielt aber nie den Nobelpreis, obwohl er von 1956 bis zu seinem Tode im Jahre 1971 auf der Kandidatenliste aufgeführt wurde, einmal an dritter Stelle. Erst nach seinem Ableben entstand eine adäquate Essayistik, die den Umfang und die Einheit des Gesamtwerks systematisch erforscht. Erwähnt werden sollte dabei die Gründung eines Vestdijk-Kreises mit eigener Kronik.



Nachtrag 1992

Seit dem Tode des Autors wird der literarische Nachlass von seiner Witwe verwaltet. In den Jahren 1978 bis 1984 wurden unter ihrer Aufsicht alle Romane aufs neue gesetzt und neu aufgelegt. Auch sind alle Musikessays (10 Bände) von neuem verlegt worden und wurde ein Anfang gemacht mit der Veröffentlichung einiger Briefwechsel. Eine textkritische Herausgabe der Nagelaten Gedichten kam 1986 zustande.

Inzwischen wurden die Anton-Wachter-Romane als Hörspiel bearbeitet und sind fünf andere Romane von Vestdijk verfilmt worden. Sowohl in Polen als auch in der Tsjechoslowakei wurde von Het vijfde zegel (Das fünfte Siegel) eine Fernsehbearbeitung gemacht. Ein Großteil seines Gesamtwerks ist in zwanzig Sprachen übertragen und herausgegeben worden, unter anderem De toekomst der religie in den Vereinigten Staaten von Amerika.

 

 

Übersetzt ins Deutsche


Romane
Das fünfte Siegel, Rohrer Verlag Brünn, 1939, Übers. A. Gerdeck - de Waal
Die Fahrt nach Jamaica, Rohrer Verlag Brünn, 1941, Übers. Georg Kurt Schauer
Aktaion unter den Sternen, Rohrer Verlag Brünn, 1942, Übers. A. Gerdeck - de Waal
Irische Nächte, Rohrer Verlag Brünn, 1944, Übers. Georg Kurt Schauer
Der Arzt und das leichte Mädchen, Hamburg, Paul Zsolnay Verlag, 1953, Übers. R. Italiaander
Betrügst du mich..., Hamburg, Paul Zsolnay Verlag, 1954

Erzählungen:
Drei Väter, Deutsch von R. Italiaander, Niederländische Meister der Erzählung, Walter Dorn Verlag, 1952
Der unterirdische Kerker (De oubliette), Deutsch von Wolfgang Hirsch, Niederländische Erzähler der Gegenwart, Reclam Stuttgart, 1962
Die Fähre, Deutsch von Jaap Grave, Moderne Niederländische Erzählungen, Suhrkamp, 1993

 

letzte Bearbeitung: 28-10-2005

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